Hier geht es zu einigen Texten aus dem Seminar 2015/16:
Wahrheitswald (nach einem Bild von Christina Völker)
Von Luisa Chilinski
„Deine Geschichten beruhigen mich nicht mehr“, sagt sie kalt, „ihnen fehlt die Richtigkeit“.
„Dann glaub doch was du willst!“, antwortet ihr Gegenüber scharf.
Und sie taucht ab, auf der Suche nach Wahrheiten im Vergessen. Grell flackern Zornesflammen auf, doch sie drängt sie zurück ins Dickicht, in die Versenkung der Farben. In diesen Räumen fällt das Denken schwer. Zu viele Farben, zu viele Erinnerungen. Zu viele Antworten, zu wenig Fragen.
Sie steht hier inmitten ihrer selbst und weiß nicht, wonach sie suchen soll.
Die Hilflosigkeit schimmert ihr bläulich aus dem Kopf, wandert wellenförmig von der Enge in die Weite. „Wo muss ich hin?“, hallt ihre Stimme leise im Durcheinander.
Es riecht nach Moos und Trüffeln, erdig und muffig. Ein Wald voller Gedanken.
Sehen kann sie nichts, die schimmernden Gedanken versperren ihr die Sicht. Flutend stürzen sie auf sie ein, bis sie knöcheltief in Phrasen steht. In allem und nichts, ein Nichts aus allem.
Hier ist kein Vorwärtskommen, nein. Es ist zu dicht, sie kann das Chaos nicht sortieren;
das Zucken der Synapsen nicht kontrollieren, das Fließen der roten Wolken nicht hindern.
Laufen ist nicht möglich, nur ein Verlaufen in abstrakten Zwischenwelten.
Zurück, zurück. Wieder vergessen. Das bringt nichts mit der Suche, sie weiß nicht was sie glauben soll.
„Deine Geschichten beruhigen mich nicht mehr“. Dies ist die Wahrheit, die Unruhe obsiegt. Sie lässt keinen Platz für Geschichten.
deine Wildnis überwältigt mich
Schicht um Schicht
unentdeckt
neue Ufer
an die du mich wirfst
hier lande ich vergnügt
und orientierungslos.
hier lande ich weiß
und färbe mich ins Jenseits.
Nirwanatraum im Jetzt verwirbelt
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von Saskia Bücker (zum gleichen Bild)
Noch stehst du unentschlossen. Dein Blick ist scheu, ich sehe dir in deine tiefbraunen Augen, sie perlen ab an deinem Wimpernschlag. Geh jetzt, sieh dir die Abendsonne an. Du durchquerst den offenen Raum leichtfüßig, nimmst Abschied von Birken und Tannen. Du leuchtest so schön, das weißt du. Deine Fellkringel zerfließen, während anmutige Beine dich über Erdbeerfelder fliegen lassen. Rote Farbscherben tropfen deinen runden Bauch herab. Wie du dich in der Luft verlierst, riech den Honig. Schnell löst du dich auf zwischen den Abendlichterwolken, ich will zu dir. Bleib doch, wir sind treue Wesen.
Ich sehe, wie du rückwärts fällst, direkt vor meine Hufe. Auf dampfenden Erdbrocken liegt jetzt dein lebensbunter Körper. Plötzlich wird er tiefschwarz, immer dunkler, endlos schwarz. Es ist still, die Nacht des Waldes verschluckt unsere aufgebrachten Herztöne. Noch kurz sind wir beieinander, verlass mich nicht. Du richtest dich wieder auf, du bist kraftvoll, ich spüre deine tiefbraunen Augen, nein, du willst wieder los, sei ja vorsichtig. Deine anmutigen Beine tragen dich schneller fort, als ich dir nachblicken kann. Ich weiß, was jetzt kommt, dieses Rauschen, das Quietschen, der Aufprall. Diesmal fliegst du nicht über Erdbeerfelder. In deinem Samtfell verkrusten Betonkieseldenkmäler, grünes Blut, überall, wer hält denn das aus?
Heute weiß ich es. Ich werde deine abwesende Schönheit nie verkraften. Wenn ich träume, läufst du rückwärts, springst über die duftenden Erdbeerfelder, riechst sie, reibst dir die Nüstern an der verharzten Birkenrinde. Bleibst dann neben mir stehen, auf ewig. Ich will nicht vergessen, wie es ist deine tiefbraunen Augen leuchten zu sehen. Sie blinzeln nur noch selten zwischen meinen Herztönen, so scheu.
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(von Vanessa Schwarkow)
Gedachte Gefühle – Eine Illusion.
Gefühlte Gedanken – Eine Explosion.
Diese Fusion eine Kollision, die endet in Konfusion.
Herz und Verstand in Aversion.
In mir tobt
eine Rebellion.
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Bild: Melissa Chelmis
Die Fremde
von Ron Jagdfeld
Bei Nacht bin ich beliebig. Körper und Geist zusammengesteckt, zwei Bausatzteilen gleichend, die nicht aufeinander passen wollen, sich erst unter genügend Druck einander fügen.
Baukasten Mensch, nur ohne Bauanleitung. Den flüchtigen Blicken, die mich jede Nacht berühren, ist es gleich. Mann sieht nur, was er sehen will. Sieht er mir ins Gesicht, so bin ich blond, bin zart und puppengleich. Sieht er mir auf die Brüste, bin ich dunkel, rassig, wild.
Bei Nacht ist er mein Architekt.
Mal bin ich seine Braut im weißen Deckenkleid, geschlungen um die Hüften: ein wilder Tanz die ganze Nacht. Mal bin ich die Dienerin, mal Herrin, Kind und Frau. Doch eines bin und bleib ich immer:
eine Fremde.
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Nachwirkungen
von Knut-Alexander Höhn
Es herrschte absolute Stille. Mina hörte nichts weiter als das eigene Herz in ihrem Hals pochen, als sie die Ruinen betrat. Langsam schlich sie durch die Gänge und Kammern. Es war kalt und ihr Atem formte Nebelwolken. Da der Boden uneben war, geriet sie ins Schwanken beim gehen.
Noch drang genügend Licht durch die Spalten in der Mauer. Gut so, dann brauchte sie keine Taschenlampenbatterie verschwenden. Ihre Pistole entsichert in der Hand, war Mina bereit auch nur den kleinsten Schatten zu erschießen, der ihr entgegen springen könnte.
Irgendwas hatte die Wand am Ende des Raumes durchbrochen und so eine Öffnung zur dahinter liegende Kammer geschaffen. Mina spähte hindurch, horchte und schlich hinein.
Diese Ruinen waren einmal die Katakomben eines Museums gewesen, damals vor dem Großen Chaos. Es war über 30 Jahre her, als sie als kleines Mädchen mit ihrem Vater das Museum besuchte.
Heute haben die Nachwirkungen des Großen Chaos das Museum wie alle anderen Gebäude der Stadt zu grauen Gemäuern werden lassen. Das oberste Stockwerk war eingestürzt, die Decke kam eines Tages einfach herunter. So wurde die Kammer zu einem fast würfelförmigen Raum. Rostige Stahlträger ragten aus den Wänden, Betonbrocken lagen auf dem Boden herum und wie überall sonst, wo es kalt und oft feucht war, wucherte der lianenartige Braunpilz aus den Ritzen und von der Decke. Mina wusste, dass der Braunpilz nicht giftig war. Doch seine Fäden trieften voll von klebrigen Sekret und sie nahm sich sich vor, sie möglcihst nicht zu berühren.
Sie sah sich um. Außer Betonklumpen und Braunpilz gab es hier nicht viel zu holen. Als sie sich zum gehen wandte, viele ihr einige Grafits auf, die irgendwelche wahnsinnigen Spaßvögel an die Wände geschmiert hatten, kurz vor dem Großen Chaos. Sie zeigten Totenköpfe, X-förmige Kreuze. Mina seufzte und ging zurück zum Ausgang.
Als hätten ihre Nerven ihr plötzlich den Reflex befohlen bevor es passierte, streckte sie die Waffe aus, noch während der Lärm fallender Trümmer durch die Ruinen hallte. Es war einer von ihnen, keuchend und zischend kroch er aus der Deckung des Braunpilzes hervor. Mina drückte instinktiv ab.
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Bilder: Andrea Imwiehe
Rabenzeit
von Annelie Mahler
Steine knacken unter den dahinschnellenden Reifen meines Fahrrads. Wind fährt mir durch die Haare, während ich kräftig in die Pedale trete. Schneller. Nur noch einmal abbiegen. Mit Schwung die Kurve nehmen. Der Vorderreifen rutscht auf dem losen Kies herum und ich schlenkere gefährlich im Sattel hin und her, fange mich gerade noch und radle ohne abzubremsen weiter. Ein paar Meter noch. Von vorne sieht alles ganz normal aus. Unversehrt. Ich stoppe hart vor der kleinen Holztür, die zum Hinterhof und in den Garten führt, lasse mein Rad achtlos fallen und sprenge um das Gebäude herum. Mitten im Lauf erstarre ich. Kälte zwirbelt meine Wirbelsäule empor und greift nach mir. Im Garten hängt die Wäsche von der Leine, ein vertrautes Bild. Dort Karlchens rote Söckchen, die er für Spazierfahrten im Kinderwagen angezogen bekommt. Daneben seine Unterhosen, weiß und schwer vom Waschen. Dazu sein Mützchen. Hin und her in der leichten Brise wiegt sich Margarethes Rock. Rosa ist er. Wie ihre Lippen. Ich erinnere mich an unseren ersten Kuss. Verheißungsvoll war er, wie ein Versprachen. Auf dem Holzzaun sitzt ein Rabe und schreit. Ich drehe mich weg von dem Idyll nun vergangener Tage. Viel ist nicht übriggeblieben. Die gesamte hintere Haushälfte ist eingestürzt. Weggebombt. Vernichtet. Die Wäsche schaukelt sanft im Wind, der aufgebrachte Rufe und Schreie zu mir herüber trägt. Steif stehe ich vor den Trümmern, sehe fassungslos die Steine und zerfallenen Wände. Einzelne Möbelstücke, an die ich mich gut erinnern kann, ragen aus dem Grab heraus. Der Anblick schmerzt und bohrt sich in meine Seele. Eine kräftigere Böe pflügt durch die Bäume und bringt die Blättern zum Rascheln. Margarethes Rock flattert heftiger, reißt sich von der Leine und fällt auf die Erde. Mit meinem Ärmel wische ich mir über die nassen Augen, sinke zu Boden und berge mein Gesicht in beide Hände. Wieder schreit der Rabe.
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Chiara Gabers:
Ich sehe mich im Spiegel,
drehe mich in meinem Kleid, denke an das Märchen von Schneewittchen,
an meine Mutter mein großer Tag.
Ich sehe mich im Spiegel Und sehe viele Kinder, Thorsten, wie er mit festem Griff nach seinem Aktenkoffer greift,
ein Herd die neue Küche.
Ich sehe mich im Spiegel Sehe die Schönheit, die bald verbraucht sein wird, sehe das unbefleckte Weiß,
unschuldig und leichtgläubig, meine zitternden Hände, die nun nach dem festen Stoff greifen,
es hochziehen, hoch, höher, bis es unanständig wird und halte inne.
Ich seh mich im Spiegel und seh mich
nur mich. Dann drehe ich mich um.
Und renne.