Warum gebe ich an der Uni Bremen Seminare im Kreativen Schreiben im Fachbereich 9 Kulturwissenschaften und hier vor allem in den Modulen der Kunstpädagogik? Wie kann das kreative und literarische Schreiben über ein Kunstwerk hin zum betrachtenden Menschen führen und diesen in der Wahrnehmung stärker zur Kunst zurückführen? Wie kann ich Kunst betrachten und lehren ohne kunstwissenschaftliche Theorien zu besprechen?
In meinen Seminaren im Bereich Kunst/Kulturwissenschaften bitte ich die zukünftigen Kunstpädagoginnen und Kunstwissenschaftler rein emotional das jeweilige Kunstwerk zu betrachten: Was löst es aus? Wie empfinde ich es? Um diesen Zustand zu kanalisieren, greife ich zu mehreren Möglichkeiten. Ein Faktor ist die Zeit. Jede Studierende muss etwa eine Stunde vor einem Kunstwerk betrachtend und sinnend, dann schreibend und reflektierend verbringen. Zur Kanalisation gebe ich beispielsweise inhaltliche Richtungen mit: wie die Grundemotionen (Angst, Wut, Ekel, Freude, Trauer, Verachtung, Überraschung) oder Motive und Themen aus der Weltliteratur (Identität, Einsamkeit, Rivalität etc.), ebenfalls Assoziation aus der Biografie oder einleitende Sätze.
Die Studierenden dürfen nicht wissenschaftlich oder sachlich, sondern müssen literarisch und emotional schreiben. Die Kurzprosa oder lyrischen Texte, die entstehen, werden von Sitzung zu Sitzung ehrlicher und literarischer. Und sie werden immer laut am Kunstwerk gelesen. Faszinierend ist dabei, wie sich die Kunstwerke unter den verschiedenen Texten in der Wahrnehmung des Betrachtenden verändern. Diese Veränderungen bewirken bei allen Betrachtenden anschließend ein Erkennen: Wenn jeder Betrachtende ein Kunstwerk derart anders wahrnimmt und jede Meinung nachvollziehbar und nachfühlbar ist, dann kann es nirgendwo eine Meinung nur geben, eine Ansicht, die „wahr“ ist. Wahr ist nur das, was die Einzelne während der Betrachtung fühlt. Und erweitert kann dieses Gefühl nur dann werden, wenn die Einzelne hört, was der Andere dazu geschrieben hat.
Deshalb gebe ich Seminare im Fachbereich Kulturwissenschaften.
Und auch deshalb, weil die Studierenden zu den Seminaren in ihren Reflexionen am Ende ihrer Hausarbeiten noch viele weitere Gründe aufzählen (bewusst anonym nachfolgend abgebildet):
Durch die Teilnahme an dem Seminar … hat mir das Schreiben … gezeigt, wie Personen ein Kunst-Zugang auf individueller, emotionaler Ebene ermöglicht werden kann: Als kreative, motivierende Interaktion mit dem Bild selbst. Denn – und das hat mir das Seminar wieder eröffnet – Zugang zu Kunst bedeutet ganz offensichtlich nicht, Fakten auswendig zu kennen oder ebenso herunterzubeten. Es bedeutet nicht, distanziert und wertend ein Bild zu betrachten. Zugang bedeutet Nähe und Identifikation mit Inhalten.
Interessant dabei war, dass unsere verschriftlichten Gedanken die anschließende Wahrnehmung des Werkes komplett ändern konnten. Beispielsweise beeinflussten mich einige Texte auf extremste Weise. Was vorher bedrohlich wirkte, konnte nach dem Vortragen als eine melancholisch-nostalgische Kindheitserinnerung funktionieren. Oft steigerte die Sicht eines*r Anderen meine emotionale Wahrnehmung des Bildes und beeinflusste meine Gedanken oft für mehrere Tage.
Schreiben als kreativer Umgang mit Kunst ist ein Akt der ständigen Selbstreflexion.
Im Seminar ist schnell klargeworden, dass wir zwar alle in der gleichen Welt leben, jedoch alle in unserem eigenen Leben; alle mit ihren eigenen Stärken, ihrem eigenen Blick auf diese Welt.
Besonders der Aspekt des veränderten Ausdrucks der beschriebenen Werke bleibt mir im Gedächtnis; ich würde behaupten, dass jeder einzelne Mensch von vornherein einen anderen Zugang zu unterschiedlichen Werken hat. Eben dieser Zugang kann jedoch durch kreative Texte geöffnet oder sogar verändert werden. Vor allem in Gruppen ist diese Erfahrung sehr bereichernd und öffnet neue Wege zu denken, sowie neue Perspektiven.
Im Gegensatz zur jeweils subjektiven Wahrnehmung hat mir die Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen und Formulierungen den Horizont erweitert. So wie es unterschiedliche Kunst(-formen), Motive und KünstlerInnen gibt, so sind auch die jeweiligen RezipientInnen der Kunst rein subjektiv und individuell. Geeint jedoch in der Situation, diese den anderen offenzulegen. Damit wurde mir die Gelegenheit gegeben festzustellen, dass es trotz der Unterschiedlichkeit von Wirklichkeiten und Wahrnehmungen nichtsdestotrotz vielfältige Parallelen und Überschneidungen gibt, die uns möglicherweise in unserem Verständnis füreinander und unserer Empathie stärken.
Für mich war dieses Seminar eine besondere Erfahrung, da ganz bewusst der respektvolle Raum für persönliches Empfinden und Kreativität geschaffen wurde. Diese „Idee“ der Annäherung und Vermittlung von Kunst, des Raumes für Individualität und Emotion, ist mir bisher nicht im Rahmen von Ausstellungen und Kunstvermittlung begegnet.
Nach diesen Auszügen der komplette Reflexionsbericht einer Studentin, der mich sehr berührt hat, denn genau deshalb gebe ich Seminare in genau dieser Form:
Zu Beginn des Seminars war ich sehr unschlüssig darüber, ob die Belegung dessen die richtige Wahl für mich darstellte. Die Inhalte interessierten mich sehr und auch das Schreiben ansich ist seit vielen Jahren eine große Leidenschaft von mir. Allerdings habe ich über diese Zeit auch eine immense Angst vor dem Schreiben entwickelt. Insbesondere wenn es darum geht, meine persönlichen Texte mit anderen zu teilen. Allein die Vorstellung ließ mich unwohl fühlen, besonders im universitären Zusammenhang.
Die Universität steht für mich für Konventionen, Normen und Anonymität. Es gibt falsch oder richtig. Und entweder hat man bestanden oder man ist durchgefallen. Für mich ist es ein Ort, an dem Platz für Zwischenzeilen fehlt.
Dieses Seminar hat mir allerdings Schritt für Schritt gezeigt, dass in dessen Räumen meine Angst unbegründet zu sein scheint. Anfangs war die Überwindung für mich hoch, mich laut mit meinen Gedanken, Worten und Meinungen vor anderen zu präsentieren. Ich habe allerdings gemerkt, das ich mit jeder Woche, mit jedem geschriebenen Wort die Sicherheit spürte, dass keiner etwas verurteilte oder bewertete. Und genau das hat mir die Angst vor dem Schreiben genommen. Zu merken, dass meine Worte immer richtig sein werden, weil sie von mir kommen. Zu spüren, dass man mit seinen Texten Menschen berühren kann, die einem in der Universität sonst so fremd erscheinen.
Für mich stand im Zentrum dieses Seminars zudem, dass man von sich selbst einen Schritt zurücktritt und die Stimme der anderen wahrnimmt. Man beginnt, sich von sich selbst, von der eigenen Sicht und Schrift zu lösen und sich zu öffnen für das der Anderen. Ich habe so viele verschiedene Ansichten und Perspektiven für ein Motiv kennengelernt wie nie zuvor, so viele Gedanken in einem Raum gespürt und miterleben können, dass viele Menschen zur gleichen Zeit ein Gefühl teilen können. Ich bin mir sicher, dass ich diese Erfahrung in keiner theoretischen Vorlesung mit 200 Menschen in einem Saal in der Uni machen werde. Menschen, die mir in diesem Seminar anfangs fremd waren, wurden von Stunde zu Stunde Menschen, denen ich näherkam. Nicht unbedingt durch das, was man zusammen gemacht hat, sondern über die Worte eines jeden einzelnen.
In Bezug auf meine Zukunft und meine berufliche Situation hat mich dieses Seminar gelehrt, den Menschen vorurteilsfrei entgegen zu treten, Akzeptanz und Toleranz für andere Meinungen entgegen zu bringen und zu genießen, dass ich mich in einer Gemeinschaft zu schätzen weiß, die aus einer großen Vielfalt besteht, dass jeder voneinander lernen kann. Mit jedem gesprochenen Wort, mit jedem geschriebenen Text erhält man die Möglichkeit, den Menschen auf eine andere Art und Weise kennenzulernen.