Wunschleben

By 15. April 2016 News No Comments

Hier ist meine Geschichte von der letzten Lesebühne im Café Lisboa zum Nachlesen:

Wunschleben                                                   von Anke Fischer

Ich schlug die Augen auf. Alles war unscharf. Ich versuchte, meine Pupillen scharf zu stellen oder das, was mich scharf sehen ließ, doch es blieb verschwommen. Ein milchig weißer Belag hatte sich über meine Augen gelegt. Er brannte. Ich setzte mich ruckartig auf, die Decke fiel auf meine Beine. Mein Herz begann zu rasen. Ich würde erblinden. So fühlt es sich an, wenn man erblindet. Man wacht auf, sieht nicht mehr scharf, sondern verschwommen. Und irgendwann ist alles nur noch dunkel. Wenn ich blind bin, kann ich nichts mehr lesen, nichts schreiben. Mein Herz klopfte stärker. Was wäre das für ein Leben? Ich schloss die Augen, lehnte mich zurück. Bitte, ich möchte nicht blind werden, sprach ich in die Luft.
Dann spürte ich es. Etwas klebte auf meinem Augapfel. Die Antwort schoss mir die Erleichterung ins Hirn:  Ich hatte vergessen, die Kontaktlinsen herauszunehmen. Gestern Nacht. Ich muss zu betrunken gewesen sein. Wunderbar! Danke! Ich würde nicht erblinden.
Ich wankte zum Bad, der Spiegel zeigte meinen verschwommenen Umriss. Dann beugte ich mich vor, öffnet das linke Auge und versuchte die Linse herauszufischen. Sie hatte sich am Augapfel festgesaugt. Ich kratzte sie vorsichtig ab. Es brannte so stark, wie wenn ich frische Linsenflüssigkeit direkt in mein Auge gekippt hätte. Verdammte Scheiße. Das musste aufhören. Die nächtlichen Exzesse. Und die täglichen auch.
Ich lauschte einem Moment meinem aufgeregten Herzen nach. Dann verstaute ich die Linsen im Behälter. Ich konnte noch immer nichts Genaues erkennen, tastete mich ins Schlafzimmer zurück, legte mich ins Bett. Zwei Stunden abwarten, dann müsste es wieder gehen, erinnerte ich mich. 

Neben mir grunzte etwas. Jemand beugte sich zu mir und atmete mir abgestandenes Bier und verklebten Zahnschmelz ins Gesicht.
„Guten morgen, Schöne“, hauchte der Grunzer. Ich versuchte durch den milchigen Schleier zu erkennen, wer mich da ansprach. Er war dunkelhaarig, soviel stand fest. Haare, Stimme und Atem kannte ich nicht. Eine Hand fasste mir unter der Decke an die Brust, blieb schlaff liegen, dann ertönte ein Schnarchen. Ich schob die Hand zur Seite, dachte nach.
Wo war ich gestern gewesen? Im Club? In der Bar? Ja, in der Bar. Es war ein M-Abend gewesen. An solchen Abenden mit bestimmten Buchstaben, die ich vor Betreten des Lokals mit mir selbst ausgezählt hatte, trank ich nur Getränke, die mit diesem Buchstaben begannen. Gestern waren das Martini, Mochito, Mai Tai, Manhattan und Malibu. Ziemlich schnell waren erst ein Blonder und dann ein Dunkelhaariger neben mir aufgetaucht. Harry, der Barkeeper, hatte mich fragend angesehen. Ist okay, hatte ich ihm zugenickt. Den Dunkelhaarigen nahm ich dann mit nach Hause. Er war überrascht wie die meisten, wenn sie meine Wohnung betraten.
„War eigentlich klar, dass so eine Schöne wie du auch schön wohnt“, sagte er. Er solle seinen Mund halten, hatte ich ihn angeschnauzt. Aber er hatte noch „geiles Loft“ gelallt, war mir frontal entgegengetreten, hatte mein Kleid hochgehoben und mir in den Schritt gefasst. Ich hatte ihn angesehen, war ins Bad gerannt und hatte mich übergeben. Als ich zurückkam, lag er nackt im Bett und grinste mich an. Ich legte mich zu ihm. Er stellte sich gar nicht dumm an.
Nur hatte ich darüber vergessen, meine Kontaktlinsen herauszunehmen. Und nun lag ich da und sah nichts. Als ich nach zwei Stunden die Augen aufschlug, war alles wieder klar. Ich sah mich um, erkannte die Regale und Ledersessel, die helle Sofaecke, sogar die glänzende Küchenzeile am anderen Ende des Lofts. Die Sonne schien durch die Fensterfront. Es musste weit am Nachmittag sein.
Ich stand auf und ging duschen. Als ich zurückkam, saß der Dunkelhaarige im Bett und wirkte etwas verloren zwischen den Matratzen, Kissen und Decken, die den Kopfteil des Raumes einnahmen. Er starrte meinen nackten Körper an.
„Bist du irgendwie reich?“, fragte er.
„Geht so“, sagte ich. „Hör mal, Kaffee gibt’s übrigens nicht, hab kein Pulver mehr da.“ Dieser Spruch hatte sich morgens bewährt, wenn ich die Typen schnell wieder loswerden wollte.
„Ich dachte, du kommst noch mal her zu mir“, sagte der Dunkelhaarige, hob die Decke und zeigte mir seinen Ständer. Ich überlegte kurz und dachte dann: Nö.
„Lass mal, mir geht’s nicht so gut“, sagte ich.
Ich ging in die Küche und ließ mir ein Glas Leitungswasser ein, trank es mit einem Zug leer. Dann suchte ich frische Unterwäsche, streifte mir T-Shirt und Hose über.
Plötzlich stand der Dunkelhaarige neben mir. Ich erschrak, hatte ihn ganz vergessen. Er wollte mich zu sich ziehen und küssen. Ich trat einen Schritt zurück.
„Du siehst unglaublich aus. Wunderschön“, sagte er. Ich nickte. Hatte mir schließlich alles gut ausgesucht, die langen lockigen Haare, den durchtrainierten Körper, die nicht zu großen Brüste. Mein Gesicht war geblieben, nur jünger. Schließlich hatte ich damit früher viel Erfolg.
„Passt schon“, sagte ich und schob ihn durch das Loft. Er wagte nichts mehr zu sagen, bis ich die Tür hinter ihm schloss.
Ich nahm den Kaffee aus dem Schrank, kochte mir einen starken Espresso und setzte mich ans Fenster. Die Farbe auf meinen Zehennägeln wuchs langsam heraus, das Dunkelgrün nahm nur noch die Hälfte des Nagels ein. Ich starrte in den Kaffee, dann zum Haus gegenüber. Dort öffnete sich nach wenigen Minuten die Tür, die zur Dachterrasse führte und ein Mann mittleren Alters trat heraus. Er blickte zu mir herüber, winkte mir zu. Ich stand auf, legte mich aufs Sofa.

Ich fühlte mich leer. Leerer als sonst. Die Männer langweilten mich. Nicht der Sex. Der war oft gut, vor allem, wenn ich nicht zu betrunken war. Aber die Tage und Nächte fühlten sich gleich an. Mir fehlte die Angst. Die Angst vor dem Versagen, die mich früher antrieb, besser zu werden. Die Angst vor Armut, die mir half, mich auszuprobieren, erfolgreich zu sein. Was ist Erfolg? Ich erinnerte mich an die zahlreichen Diskussionen mit den Freunden, von denen jeder Erfolg anders definierte, persönlicher, und dennoch stimmten wir überein, fühlten uns bestätigt. Wir sprachen von unseren Sehnsüchten, den Versäumnissen, dem Menschenekel und der Arroganz, die uns beschützte.
Und dann kam der Tag, als sich diese Frau im Café neben mich setzte. Sie murmelte vor sich hin. Erst nach einigen Sekunden begriff ich, dass sie zu mir sprach. Ich hörte ihr zu. Damals tat ich das noch. Hörte zu, war neugierig. Sie sagte, dass sie von den Menschen enttäuscht sei, von ihrer Egozentrik. Egal wohin sie ging, ein jeder kreiste mit seinen Gedanken um sich. Suchte nach dem optimalen Weg, um seine Wünsche zu erfüllen, weil er oder sie dann glaubte, das Glück käme sicher.
Ich stimmte ihr zu und sagte dann: „Ja, aber…“
Hätte ich das nicht getan, hätte ich weiter zugehört, vielleicht wäre ich von alleine klüger geworden.
Zum Abschied drückte sie mir die Hand und sprach: „Jeden Tag ein erfüllter Wunsch wird Sie verändern, mein liebes Kind. Dann werden sie merken, was ich meine.“
Ich wunderte mich noch, dass sie mich „Liebes Kind“ nannte. Ich war über vierzig und sie sag jünger aus als ich, zeitloser.
Ihre „Verwünschung“ hatte ich rasch vergessen. Einige Tage später stand ich morgens vor dem Spiegel, sag meine Augenringe und die Falten um den Mund und seufzte: „Darauf könnte ich wirklich verzichten.“ Ich blickte noch in den Spiegel und sah, wie sich die Falten glätteten, meine Backenhaut straffte, sich die Augenlieder hoben. Ich taumelte zum Toilettensitz, ließ mich fallen. Als ich mich erneut im Spiegel betrachtete, sah ich in mein dreißigjähriges Gesicht. Das Gesicht, das ich mir bei jedem Blick in den Spiegel ersehnte, auch heute morgen.
In den nächsten Wochen wünschte ich mir jeden Tag etwas Neues: längere, straffere Beine, einen flachen Bauch, durchtrainierte Arme, ein Loft, einen Geldbeutel, dessen Inhalt nie versiegt, das hatte ich einmal in einem Märchen gelesen, es funktionierte. Ich legte mir tagsüber Listen an, was ich mir am nächsten Morgen wünschen könnte. Es war eine Zeit, in der ich wie in Trance durch mein Leben ging, süchtig nach meinen Wünschen. Ich wartete bis Mitternacht und arbeitet die Liste von Tag zu Tag ab, jeweils in der einen Minute jedes neuen Tages. 00.01 Uhr, die Stunde der Wünsche.
Das war vor fünf Jahren gewesen. Seitdem erfüllte sich jeden Tag ein Wunsch. Nach drei Jahren fiel mir nichts mehr ein. Und ich verfolgte auch nicht mehr meine ausgesprochenen Wünsche, die mir zwischendurch herausrutschten. Jeden Tag eine Wunscherfüllung, die ich nicht wahrnahm. Jeden Tag ein Mann, ein Kleid, ein Ausflug, ein Film, ein Buch. Dinge, die ich mir nicht mehr wünschen musste, die zu mir kamen, weil mein Geldbeutel nie leer war und ich nicht alterte, nie krank war, jedes Buch schreiben konnte, das ich wollte, ein jeder mir Beifall klatschte, jede Frau sich danach sehnte, wie ich zu sein, jeder Mann mir einmal zwischen die Schenkel greifen wollte. Jeden Tag, jede Nacht.

Doch an diesem Morgen erwachte ich und spürte die Angst, zu erblinden. Ich sehnte mich nach meinem alten Leben und nach den Sorgen, die mich vorantrieben und mir Halt gaben. Ich war das Wunschleben leid, wollte keine Garantie mehr für eine Erfüllung. Ich sah auf die Uhr. Es war 23.56 Uhr. Nur noch wenige Minuten, dann würde sich mein Leben ändern, dachte ich. Einen Versuch war es wert!

 

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